Richter: Ich eröffne die heutige Sitzung und stelle die Anwesenheit
sämtlicher Angeklagten und Nebenkläger fest. Herr Justizwachtmeister,
rufen Sie die Zeugin Meyer herein!
FrauMeyer: Du großer Gott, Herr Direktor, was soll ich denn hier?
Ich bin die Frau Meyer aus Luckenwalde und habe rein gar nischt gesehen.
Lassen Sie mich doch fort, mein guter Herr!
Richter: Sie sind als Zeugin geladen und müssen natürlich vernommen
werden. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich Sie eventuell
vereidigen werde. Kennen Sie die Bedeutung des Eides?
FrauMeyer: Ach, du mein lieber Herr Jesus! Ich bin vierundsiebzig
Jahre alt und habe noch niemals mit den Gerichten zu tun gehabt. Und
jetzt in meinen alten Tagen soll ich auch noch schwören? Wo ich überhaupt
nischt gesehen habe?
Richter: Ich habe Sie gefragt, ob Sie die Bedeutung des Eides
kennen!
FrauMeyer: Lassen Sie mich doch fort, mein guter Herr! Ich bin die
Frau Meyer mit aus Luckenwalde, und wenn ich schwören soll, fall ich
hier auf der Stelle um.
Richter: Sie sind von der Verteidigung geladen, um auszusagen, daß
Sie nichts von einem Überfall gesehen haben, der von sechshundert
Nationalsozialisten auf dreiundzwanzig Rotfrontkämpfer ausgeführt worden
sein soll, wie die Herren Nebenkläger behaupten. Haben Sie also zum
Beispiel gesehen, wie in Trebbin ein Nationalsozialist mit einer
Fahnenstange in das Abteil der Kommunisten hineingestochen hat?
FrauMeyer: Nee, ich habe nischt nich gesehen. Ich war doch noch
gar nicht in Trebbin. In meinem ganzen Leben noch nicht bin ich in Trebbin
gewesen. Wo soll denn das Trebbin sein?
Richter: Sie haben also nichts bemerkt. Herr Protokollant, notieren
Sie: Die Zeugin Meyer aus Luckenwalde gibt an, nichts davon gesehen
zu haben, wie ein Nationalsozialist mit der Fahnenstange in das Abteil der
Rotfrontkämpfer hineingestochen hat. Frau Zeugin, ich frage Sie weiter:
Ist Ihnen etwas darüber bekannt, daß Nationalsozialisten das feindliche
Abteil mit Steinen bombardiert haben sollen? Aber sagen Sie die reine
Wahrheit! Sie werden nachher von mir vereidigt werden, und alles, was
Sie jetzt aussagen, geht auf Ihren Eid.
FrauMeyer: Lassen Sie mich doch in Ruhe, Exzellenz! Ich bin doch
eine alte Frau und gar nicht mit dabei gewesen. Wie kann ich da was von
Steinwürfen gesehen haben!
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Richter: Sie geben also zu, nichts von Steinwürfen bemerkt zu haben. Herr Protokollant, notieren Sie das! Ich frage Sie weiter, Frau Zeugin: Haben Sie beobachtet, daß von den Nationalsozialisten auf die Frontkämpfer geschossen worden sein soll? Überlegen Sie sich genau, was Sie jetzt sagen!
FrauMeyer: Geschossen? Du lieber Himmel! Wer soll denn geschossen haben? Nee, ichliabe nichts gehört. Richter: Sie haben also auch keine Schüsse bemerkt. Halten Sie es für möglich, daß die Nationalsozialisten auf die Rotfrontkämpfer geschossen haben könnten?
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Frau Meyer: Wie kann denn ein gebildeter Mensch überhaupt auf einen anderen Menschen schießen?
Richter: Das meine ich auch. Herr Protokollant, schreiben Sie: Die Zeugin hält es für ausgeschlossen, daß von den Nationalsozialisten auf die Frontkämpfer geschossen worden sein kann. Wir kommen jetzt zum zweiten Teil Ihrer Vernehmung, der sich auf das Verhalten der Rotfrontkämpfer bezieht. Ich erinnere Sie noch einmal kurz an die Tatsachen: Am Abend des zwanzigsten März fuhr eine Schalmeienkapelle des Rotfrontkämpferbundes von Jüterbog nach Berlin. In Trebbin stiegen fünfhundert bis sechshundert uniformierte Nationalsozialisten dazu. Die Rotfrontkämpfer behaupten nun, auf der Fahrt von Trebbin nach Berlin-Lichterfelde von den Gegnern gestochen, mit Steinen beworfen, beschossen und beim Aussteigen schwer mißhandelt worden zu sein. Als Beweis führen sie an, daß dreizehn von ihnen schwer verwundet wurden und daß der Waggon, in dem sie saßen, eine ganze Menge Einschußstellen aufweist. Unsere Aufgabe ist es nun, eine Erklärung für die Verletzungen der Frontkämpfer zu finden. Dabei sollen Sie uns helfen, Frau Zeugin. FrauMeyer: Ich kann nicht mehr, Herr Präsident. Mir ist ganz übel geworden.
Richter: Herr Justizwachtmeister, bringen Sie der Zeugin einen Stuhl und ein Glas Wasser. Zeugin, kennen Sie die Strecke nach Berlin? Kennen Sie den Bahnhof in Lichterfelde-Ost?,
FrauMeyer: Natürlich, Herr Rat! Ich bin doch aus Luckenwalde und fahre öfter zu meiner Tochter, die in Berlin verheiratet ist. Soll denn das auch ein Verbrechen sein?
Richter: Wir stellen fest: die Zeugin fährt regelmäßig nach Berlin, kennt die Strecke genau, gleichfalls den Bahnhof in Lichterfelde. Frau Zeugin: Haben Sie schon einmal einen Stein aus einem Fenster fliegen sehen?
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FrauMeyer: Warten Sie mal, Herr Richter. Jawohl, natürlich! Ich
ging damals noch in die Schule und...
Richter: Es interessiert uns nicht, ob Sie an dem fraglichen Tage noch
schulpflichtig gewesen sind. Schreiben Sie, Herr Kollege: Die Zeugin gibt
an, gesehen zu haben, wie Steine aus dem Fenster geflogen sind. Wissen
Sie, daß Kommunisten zuweilen auch schießen? Denken Sie scharf nach!
FrauMeyer: Sie meinen wohl die Spartakisten? War das nicht
neunzehnhundertachtzehn? Und vorher sollen doch auch die Kommunisten
in Rußland viele Menschen erschossen haben?
Richter: Sehen Sie, meine liebe Frau Meyer, Sie gehören zu den
Leuten, deren Gedächtnis mit der Zeit immer besser und besser wird. Wir
können also schreiben: Die Zeugin weiß, daß die Kommunisten geschossen
haben. Wieviel Schüsse mögen sie^denn etwa abgegeben haben? Vielleicht
zehn? Oder meinen Sie etwa zwanzig?
FrauMeyer: Aber das weiß ich doch nicht, Herr Scharfrichter! Ich
habe doch überhaupt niemanden schießen sehen!
Richter: Das ist doch unerhört! Vor genau einer Minute haben Sie
erklärt, daß von den Kommunisten geschossen worden ist, und jetzt wollen
Sie auf einmal wieder nichts bemerkt haben?
FrauMeyer: Ich bin doch eine alte Frau. Vierundsiebzig Jahre alt.
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Richter: Wollen Sie damit sagen, daß Sie zuweilen von Ihrem
Gedächtnis im Stiche gelassen werden?
FrauMeyer. Das stimmt schon. Wenn man alt wird, wird man
vergeßlich.
Richter: Haben Sie nicht das Aufblitzen der Schüsse im
Frontkämpferabteil gesehen? Andere Zeugen haben nämlich bekundet,
daß sie einen Blitz, einen Feuerschein oder eine Art Flammenstrahl
beobachtet haben.
FrauMeyer: Wenn es die Leute sagen, wird es schon stimmen.
Meine Augen sind ja schon so schwach. Ich kann nämlich gar nicht mehr
gut sehen, Herr Richter. Wenn ich nicht ganz genau wüßte, daß Sie ein
Mensch aus Fleisch und Blut wären erkennen kann ich es nicht.
Richter: Sie wollen also damit sagen, daß Sie das Aufblitzen der
Schüsse unbedingt bemerkt haben müßten, wenn Sie noch im Besitze
Ihrer vollen Sehkraft gewesen wären?
FrauMeyer: Wenn Sie es sagen, wird es schon richtig sein, Herr
Richter.
Richter: Sie halten es natürlich für sehr wahrscheinlich, daß sich die
Rotfrontkämpfer gegenseitig verletzt haben?
FrauMeyer: Das kann schon mal passieren.
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Richter: Ich habe keine Frage mehr an die Zeugin. Ich werde Sie
jetzt vereidigen.
F r a u r: O Gott, o Gott, nur das nicht! Lassen Sie mich fort,
mein guter Herr!
R i ch ter: Wenn Sie Ihren Eid abgelegt haben, dürfen Sie gehen.
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