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Drei Männer im Schnee




Früh gegen sieben Uhr polterten die ersten Gäste aus ihren Zimmern. Es klang, als marschierten Kolonnen von Tiefseetauchern durch die Korridore.

Der Frühstücksaal hallte wider von den Gesprächen und vom Gelächter hungriger, gesunder Menschen. Die Kellner balancierten üppig beladene Tabletts. Später schleppten sie Lunchpakete herbei und überreichten sie den Gästen, die erst am Nachmittag von größeren Skitouren zurückkehren wollten.

Heute zog auch Hoteldirektor Kühne wieder in die Berge. Als er, gestiefelt und gespornt, beim Portier vorüberkam, sagte er: Herr Polter, sehen Sie zu, dass dieser Schulze keinen Quatsch macht! Der Kerl ist heimtückisch. Seine Ohrläppchen sind angewachsen. Und kümmern Sie sich um den kleinen Millionär!

Wie ein Vater, erklärte Onkel Polter ernst. Und dem Schulze werde ich irgendeine Nebenbeschäftigung verpassen. Damit er nicht übermütig wird.

Karl der Kühne musterte das Barometer. Ich bin vor dem Diner wieder da. Fort war er.

Na, wenn schon, sagte der Portier und sortierte anschließend die Frühpost.

*

Herr Kesselhuth saß noch in der Wanne, als es klopfte. Er meldete sich nicht. Denn er hatte Seife in den Augen. Und Kopfschmerzen hatte er außerdem. Das kommt vom Saufen, sprach er zu sich selber. Und dann ließ er sich kaltes Wasser übers Genick laufen.

Da wurde die Badezimmertür geöffnet, und ein wilder, lockiger Gebirgsbewohner trat ein. Guten Morgen wünsch ich, erklärte er. Entschuldigen Sie, bittschön. Aber ich bin der Graswander Toni.

Da kann man nichts machen, sagte der nackte Mann in der Wanne. Wie geht's?

Danke der Nachfrage. Es geht.

Das freut mich, versicherte Kesselhuth in gewinnender Manier. Und worum handelt sich's? Wollen Sie mir den Rücken abseifen?

Anton Graswander zuckte die Achseln. Schon, schon. Aber eigentlich komm ich wegen dem Skiunterricht.

Ach so! rief Kesselhuth. Dann steckte er einen Fuß aus dem Wasser, bearbeitete ihn mit Bürste und Seife und fragte: Wollen wir mit dem Skifahren nicht lieber warten, bis ich abgetrocknet bin?

Der Toni sagte: Please, Sir! Er war ein internationaler Skilehrer. Ich warte drunten in der Halle. Ich hab dem Herrn ein Paar Bretteln mitgebracht. Prima Eschenholz. Dann ging er wieder.

*

Auch Hagedorns morgendlicher Schlummer erlitt eine Störung. Er träumte, dass ihn jemand rüttele und schüttele, und rollte sich gekränkt auf die andre Seite des breiten Betts. Aber der Jemand ließ sich nicht entmutigen. Er wanderte um das Bett herum, schlug die Steppdecke zurück, zog ihm den Pyjama vom Leibe, goss aus einer Flasche kühles Öl auf den Rücken des Schläfers und begann ihn mit riesigen Händen zu kneten und zu beklopfen.

Lassen Sie den Blödsinn! murmelte Hagedorn und haschte vergeblich nach der Decke. Dann lachte er plötzlich und rief: Nicht kitzeln! Endlich wachte er ein wenig auf, drehte den Kopf zur Seite, bemerkte einen großen Mann mit aufgerollten Hemdsärmeln und fragte erbost: Sind Sie des Teufels, Herr?

Nein, der Masseur, sagte der Fremde. Ich bin bestellt. Mein Name ist Masseur Stünzner.

Ist Masseur Ihr Vorname? fragte der junge Mann.

Eher der Beruf, antwortete der andre und verstärkte seine handgreiflichen Bemühungen. Es schien nicht ratsam, Herrn Stünzner zu reizen.,Ich bin in seiner Gewalt', dachte der junge Mann.,Er ist ein jähzorniger Masseur. Wenn ich ihn kränke, massiert er mich in Grund und Boden.'

Alle Knochen taten ihm weh. Und das sollte gesund sein?

*

Geheimrat Tobler wurde nicht geweckt. Er schlief, in seinen uralten warmen Mantel gehüllt, turmhoch über allem irdischen Lärm. Fern von Masseuren und Skilehrern. Doch als er erwachte, war es noch dunkel.

Er blieb lange Zeit, im friedlichen Halbschlummer, liegen. Und er wunderte sich, in regelmäßigen Abständen, dass es nicht heller wurde.

Endlich kletterte er aus dem Bett und blickte auf die Taschenuhr. Die Leuchtziffern teilten mit, dass es zehn Uhr war.,Offensichtlich eine Art Sonnenfinsternis', dachte er und ging kurz entschlossen wieder ins Bett. Es war hundekalt im Zimmer.

Aber er konnte nicht wieder einschlafen. Und, vor sich hindösend, kam ihm eine Idee. Er stieg wieder aus dem Bett heraus, zündete ein Streichholz an und betrachtete das nahezu waagrechte Dachfenster.

Das Fenster lag voller Schnee.,Das ist also die Sonnenfinsternis!' dachte er. Er stemmte das Fenster hoch. Der größere Teil des auf dem Fenster liegenden, über Nacht gefallenen Schnees prasselte das Dach hinab. Der Rest, es waren immerhin einige Kilo, fiel in und auf Toblers Pantoffeln.

Er schimpfte. Aber es klang nicht sehr überzeugend.

Draußen schien die Sonne. Sie drang wärmend in die erstarrte Kammer. Herr Geheimrat Tobler zog den alten Mantel aus, stellte sich auf den Stuhl, steckte den Kopf durchs Fenster und nahm ein Sonnenbad. Die Nähe und der Horizont waren mit eisig glänzenden Berggipfeln und rosa schimmernden Felsschroffen angefüllt.

Schließlich stieg er wieder vom Stuhl herunter, wusch und rasierte sich, zog den violetten Anzug an, umgürtete die langen Hosenbeine mit einem Paar Wickelgamaschen, das aus dem Weltkrieg stammte, und ging in den Frühstückssaal hinunter.

Hier traf er Hagedorn. Sie begrüßten einander aufs herzlichste. Und der junge Mann sagte: Herr Kesselhuth ist schon auf der Skiwiese. Dann frühstückten sie gründlich.

Durch die großen Fenster blickte man in den Park. Die Bäume und Büsche sahen aus, als ob auf ihren Zweigen Schnee blühe, genau wie Blumen blühen. Darüber erhoben sich die Kämme und

Gipfel der winterlichen Alpen. Und über allem, hoch oben, strahlte wolkenloser, tiefblauer Himmel.

Es ist so schön, dass man aus der Haut fahren könnte! sagte Hagedorn. Was unternehmen wir heute?

Wir gehen spazieren, meinte Schulze. Es ist vollkommen gleichgültig, wohin. Er breitete sehnsüchtig die Arme aus. Die zu kurzen Ärmel rutschten vor Schreck bis an die Ellbogen. Dann sagte er: Ich warne Sie nur vor einem: Wagen Sie es nicht, mir unterwegs mitzuteilen, wie die einzelnen Berge heißen!

Hagedorn lachte. Keine Sorge, Schulze! Mir geht's wie Ihnen. Man soll die Schönheit nicht duzen!

Die Frauen ausgenommen, erklärte Schulze aufs entschiedenste.

Wie Sie wünschen! sagte der junge Mann. Dann bat er einen der Kellner, er möge ihm doch aus der Küche einen großen leeren Marmeladeneimer besorgen. Der Kellner führte den merkwürdigen Auftrag aus, und die beiden Preisträger brachen auf.

Onkel Folter überlief eine Gänsehaut, als er Schulzes Wickelgamaschen erblickte. Auch über Hagedorns Marmeladeneimer konnte er sich nicht freuen. Es sah aus, als ob zwei erwachsene Männer fortgingen, um im Sand zu spielen.

Sie traten aus dem Hotel. Kasimir ist über Nacht noch schöner geworden! rief Hagedorn begeistert aus, lief zu dem Schneemann hinüber, stellte sich auf die Zehenspitzen und stülpte ihm den goldgelben Eimer aufs Haupt. Dann übte er, schmerzverzogenen Gesichts, Schulterrollen und sagte: Dieser Stünzner hat mich völlig zugrunde gerichtet!

Welcher Stünzner? fragte Schulze.

Der Masseur Stünzner erklärte Hagedorn. Ich komme mir vor, als hätte man mich durch eine Wringmaschine gedreht. So ähnlich muss sich Prokrustes gefühlt haben. Und das soll gesund sein? Das ist vorsätzliche Körperverletzung!

Es ist trotzdem gesund, behauptete Schulze.

Wenn er übermorgen wiederkommt, sagte Hagedorn, schicke ich ihn in Ihre Rumpelkammer. Soll er sich bei Ihnen austoben!

Da öffnete sich die Hoteltür, und Onkel Polter stapfte durch den Schnee. Hier ist ein Brief, Herr Doktor. Und in dem anderen Kuvert sind ein paar ausländische Briefmarken.

Danke schön, sagte der junge Mann. Oh, ein Brief von meiner Mutter! Wie gefällt Ihnen übrigens Kasimir?

Darüber möchte ich mich lieber nicht äußern, erwiderte der Portier.

Erlauben Sie mal! rief der junge Mann. Kasimir gilt unter Fachleuten für den schönsten Schneemann zu Wasser und zu Lande!

Ach so, sagte Onkel Folter. Ich dachte, Kasimir sei der Vorname von Herrn Schulze. Er verbeugte sich leicht und ging zur Hoteltür zurück. Dort drehte er sich noch einmal um. Von Schneemännern verstehe ich nichts.

*

Sie folgten einem Weg, der über verschneites, freies Gelände führte. Später kamen sie in einen Tannenwald und mussten steigen. Die Bäume waren uralt und riesengroß. Manchmal löste sich die schwere Schneelast von einem der Zweige und stäubte in dichten weißen Wolken auf die zwei Männer herab, die schweigend durch die märchenhafte Stille spazierten. Der Sonnenschein, der streifig über dem Bergpfad schwebte, sah aus, als habe ihn eine gütige Fee gekämmt.

Als sie einer Bank begegneten, machten sie halt. Hagedorn schob den Schnee beiseite, und sie setzten sich. Ein schwarzes Eichhörnchen lief eilig über den Weg.

Nach einer Weile erhoben sie sich wortlos und gingen weiter. Der Wald war zu Ende. Sie gerieten auf freies Feld. Ihr Pfad schien im Himmel zu münden. In Wirklichkeit bog er rechts ab und führte zu einem baumlosen Hügel, auf dem sich zwei schwarze Punkte bewegten.

Hagedorn sagte: Ich bin glücklich! Bis weit über die Grenzen des Erlaubten! Er schüttelte befremdet den Kopf. Wenn man's so bedenkt: Vorgestern noch in Berlin. Seit Jahren ohne Arbeit. Und in vierzehn Tagen wieder in Berlin...

Glücklichsein ist keine Schande, sagte Schulze, sondern eine Seltenheit.

Plötzlich entfernte sich der eine der schwarzen Punkte von dem anderen. Der Abstand wuchs. Der Punkt wuchs auch. Es war ein Skifahrer. Er kam mit unheimlicher Geschwindigkeit näher und hielt sich mit Mühe aufrecht.

Da gehen jemandem die Schneeschuhe durch, meinte Hagedorn.

Ungefähr zwanzig Meter von ihnen tat der Skifahrer einen marionettenhaften Sprung, stürzte kopfüber in eine Schneewehe und war verschwunden.

Spielen wir ein bisschen Feuerwehr! rief Schulze. Dann liefen sie querfeldein, versanken wiederholt bis an die Hüften im Schnee und halfen einander, so gut es ging, vorwärts.

Endlich erblickten sie ein Paar zappelnde Beine und ein Paar Skibretter und zogen und zerrten an dem fremden Herrn, bis er, dem Schneemann Kasimir nicht unähnlich, zum Vorschein kam. Er hustete

und prustete, spuckte pfundweise Schnee aus und sagte dann tief traurig: Guten Morgen, meine Herren. Es war Johann Kesselhuth.

Herr Schulze lachte Tränen. Doktor Hagedorn klopfte den Schnee vom Anzug des Verunglückten. Und Kesselhuth befühlte misstrauisch seine Gliedmaßen. Ich bin anscheinend noch ganz, meinte er dann.

Weshalb sind Sie denn in diesem Tempo den Hang heruntergefahren? fragte Schulze.

Kesselhuth sagte ärgerlich: Die Bretter sind gefahren. Ich doch nicht!

Nun kam auch der Graswander Toni angesaust. Er fuhr einen eleganten Bogen und blieb mit einem Ruck stehen. Aber, mein Herr! rief er. Schußfahren kommt doch erst in der fünften Stunde dran!

*

Nach dem Mittagessen gingen die drei Männer auf die Hotelterrasse hinaus, legten sich in bequeme Liegestühle, schlössen die Augen und rauchten Zigarren. Die Sonne brannte heißer als im Sommer.

In ein paar Tagen werden wir wie die Neger aussehen, meinte Schulze. Braune Gesichtsfarbe tut Wunder. Man blickt in den Spiegel und ist gesund.

Die anderen nickten zustimmend.

Nach einiger Zeit sagte Hagedorn: Wissen Sie, wann meine Mutter den Brief geschrieben hat, der heute ankam? Während ich in Berlin beim Fleischer war, um Wurst für die Reise zu holen.

Wozu diese Überstürzung? fragte Kesselhuth verständnislos.

Damit ich bereits am ersten Tage Post von ihr hätte!

Aha! sagte Schulze. Ein sehr schöner Einfall.

Die Sonne brannte. Die Zigarren brannten nicht mehr. Die drei Männer schliefen. Herr Kesselhuth träumte vom Skifahren. Der Graswander Toni stand auf dem einen Turm der Münchner Frauenkirche. Und er, Kesselhuth, auf dem ändern Turm.

Und jetzt eine kleine Schussfahrt, sagte der Toni. Über das Kirchendach, bitte schön. Und dann, mit einem stilreinen Sprung, in die Brienner Straße. Vorm Hofgarten, beim Anast machen S' einen Stemmbogen und warten auf mich.

Ich fahre nicht, erklärte Kesselhuth. Das würde mir nicht einmal im Traum einfallen! Hierbei fiel ihm ein, dass er träumte! Da wurde er mutig und sagte zum Toni: Rutschen Sie mir in stilreinen Stemmbögen den Buckel runter! Anschließend lächelte er im Schlaf.

 

Das zehnte Kapitel





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